Charakterentwicklung - Grenzen zwischen Sachbüchern und Romanen

Warum konnte ich als Sachbuchexpertin bei einem Roman helfen?

Die Grenzen zwischen den Buchgenres verschwimmen immer mehr. Dadurch, dass die KDP-Selbstverleger in vielen Nischen Bücher zu den selben Themen veröffentlichen, muss ich als Ghostwriterin ganz schön kreativ werden, um ein neues Buch von den bereits existierenden abzuheben. Vor kurzem habe ich eine Auftragsarbeit zum Thema Online Dating geschrieben. Wie viele Selbstverleger haben in den letzten Wochen zu diesem Thema wohl ein Buch in Auftrag gegeben? Wodurch kann man ein neues Buch zum Thema Online Dating im Meer der Konkurrenzbücher denn für Leser überhaupt noch interessant machen?



Alleinstellungs- oder Unterscheidungsmerkmal

Am besten arbeitet man mit einem sogenannten Alleinstellungs- oder Unterscheidungsmerkmal. Wie sein Name schon sagt, muss dieser Aspekt wirklich ungewöhnlich sein. Und hierdurch erklären sich auch die immer mehr ineinandergreifenden Grenzen zwischen Romanen und Sachbüchern: Sachbücher können durch fiktive Charaktere zum Leben erweckt werden und sie bekommen dadurch eine interessante Dimension. Eines der letzten Ernährungsbücher schrieb ich aus der Perspektive eines übergewichtigen Paares, das von seinen Kämpfen, Frustrationen und Erfolgen mit verschiedenen Diäten und Ernährungsformen erzählt. Es sollte nicht schon wieder ein langweiliger Ratgeber mit Daten und Fakten werden. Dafür musste ich mir wie bei einem Roman intensive Gedanken zu den Charakteren machen, um sie möglichst realistisch darzustellen. Sie waren in diesem Fall der rote Faden des Buchs und nicht das eigentliche Sachbuch-Thema.



Wie erfinde und entwickle ich interessante Roman-Charaktere?

Beim Durchsehen der Romane auf Amazon sehe ich oft, dass viele Autoren das Feedback erhalten, dass ihre Charaktere zu „flach“ oder „leblos“ seien. Ich denke, dass der jeweilige Autor sie nicht genügend erfand und entwickelte, sondern dachte, dass sie sich beim Schreiben von alleine noch weiter entwickeln werden. Doch das ist selten der Fall. Auch bei Sachbüchern schreibt sich das Buch schneller und besser, wenn der Autor die Kontrolle übernimmt und den Inhalt und die Struktur vor dem Schreiben geplant und genau festgelegt hat. Der Schöpfer eines Romans sollte den Charakter und Handlungsstrang vor dem Schreiben ebenso in- und auswendig kennen. Vor allem sollte er in sich vorstellen können.



Wie kann ich einem Roman-Charakter Tiefe geben?

Um einem Charakter Tiefe zu geben, begibt man sich am besten in eine ungewohnte Perspektive.

Nehmen wir als Beispiel an, dass die Hauptfigur meines zukünftigen Thrillers eine allein stehende Frau ist. Den Charakter habe ich in Grundzügen schon im Kopf. Um ihm nun noch die nötige Tiefe zu geben, kann ich mich in die Rolle anderer Menschen versetzen:

- Kind

- Elternteil

- Schwester/Bruder

- Ex-Partner oder Partner

- Lehrer oder Professor

- Mitschüler oder Studienkollege

- Vorgesetzter

- und und und

All diese Menschen lasse ich nun Fragen zu meinem fiktiven Charakter stellen:

- Wer ist das?

- Wie wirkt sie auf mich?

- Welchen Spitznamen hat sie?

- Wie ist ihre Vergangenheit gewesen?

- Welche Menschen sind in ihrem Leben wichtig?

- Welche Lebensansichten hat sie, was sind ihre Werte?

- Was macht sie im Moment?

- Was bewegt sie im Moment?

- Wie wird sie sich in den nächsten Monaten entwickeln, was wird in ihrem Leben passieren?

- Wie intelligent ist sie?

- Was ist besonders an ihr?

- Was ärgert mich an ihr?

- Was bringt sie dazu, emotional zu sein, worüber ärgert sie sich oder weint?

Jeder der Menschen um sie herum wird diese Fragen anders beantworten.

- Neffe: „Sie ist wirklich eine coole Tante. Sie verdient gut und immer hat sie Geld, das sie auch in vollen Zügen ausgibt. Meine Tante erlaubt mir alles und lässt mich abends immer tolle Filme ansehen. Meistens sind sie nicht für meine Altersklasse erlaubt, aber sie sagt zu meiner Mutter immer, dass Kinder doch lernen müssen. Ich mag es, dass sie sich nicht wie die Menschen in ihrem Alter anzieht: Sie trägt lässige Klamotten und sieht viel jünger als ihre Freunde aus. Manchmal fragen mich Freunde, ob sie meine große Schwester ist. Außerdem spricht sie verdammt gut Englisch. Das hat uns bei einigen Familienurlauben oft geholfen, komische Situationen zu lösen. Obwohl ich es bei anderen Menschen nicht mag, stört es mich bei ihr nicht, dass sie öfter trinkt. Ich wünschte, ich könnte auch mal so sein wie sie!“

- Elternteil: „Sie war als Kind schwierig. Immer wurde sie bei den kleinsten Auseinandersetzungen emotional. Wir wollten nicht, dass sie ihr Studium abbricht. Sie wollte Geld verdienen und fing als Sekretärin in einem Büro an. Alles, was sie verdient, wirft sie zum Fenster raus. Sie spart nicht. Das sollte sie aber, schließlich ist sie schon 35 und noch immer Single. Wir wissen nicht, warum sie immer die falschen Partner hatte. Immer zerbrachen ihre Beziehungen und meistens ging sie mit ihren Ex-Partnern nicht im Frieden auseinander. Wir machen uns große Sorgen um sie. Nach außen ist sie immer so stark, aber innerlich ist sie ziemlich kaputt. Sie sollte dringend mal zu einem Psychologen gehen. Aber wir können unserer Tochter so etwas doch nicht sagen. Wir hoffen, dass der nächste Mann kein Spinner oder Egoist ist, sondern wirklich mal ein lieber und netter Mann. Aber ob so jemand auf lange Sicht zu ihrem spleenigen Leben passt, ist die andere Frage. Vielleicht sind wir einfach zu anders.“

- Schwester: „Ich liebe meine kleine Schwester. Sie war der Nachzügler in unserer Familie. Leider hat sie die Scheidung unserer Eltern mitmachen müssen. Sie hat sehr darunter gelitten. Wir haben eine gute Beziehung und sie ruft mich immer an, wenn sie Rat oder Hilfe braucht. Mein Sohn ist oft bei ihr und die beiden verstehen sich gut. Mit den Männern hat es bei ihr nie geklappt und sie lebt lieber alleine. Mittlerweile ist sie wegen ihres neuen Jobs in eine andere Stadt gezogen und wir sehen sie nicht mehr so oft. Ich freue mich, dass sie auf eigenen Beinen steht und gut verdient. Sie hat in ihrem Leben noch große Karrierepläne. Immer, wenn in ihrem Leben etwas Wichtiges passiert, telefonieren wir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich nicht daran teilhaben lässt. In der Schule wurde sie einmal von einer Gruppe von Jungs geprügelt, weil sie damals ziemlich übergewichtig war. Das hat in ihr irgendwie so einen rasenden Hass auf Männer erzeugt. Sie zeigt das nie, aber sie macht hin und wieder Männern gegenüber ganz schön zynische Bemerkungen. Sie möchte gerne Kinder, das weiß ich. Als mein Sohn einmal krank war, hat sie sich riesige Sorgen um ihn gemacht. Ich hoffe, dass sie den Mann fürs Leben bald findet. Sonst suche ich einen für sie. Sie ist doch im besten Alter für eine Familie!“

- Ex-Partner: „Die Alte ist sowas von durchgeknallt. In ihrem Elternhaus stritten sich ihre Mutter und ihr Vater die ganze Zeit, immer wieder war von Scheidung die Rede. Selbstverständlich ist das für niemanden einfach. Aber sie  - ihre ganzen Kindheitstraumata trägt sie mit sich herum. Bei jeder Meinungsverschiedenheit heult sie wie ein Kleinkind und schreit einen dann wie eine Besessene an. Sie kann sich gar nicht mehr beruhigen und hat ihre Emotionen nicht im Griff. Immer muss es nach ihr gehen. Sie muss in der Beziehung die absolute Kontrolle haben. Sie ist als Partnerin ganz schön unerträglich. Als ich mich von ihr trennte, verhöhnte sie mich im ganzen Freundeskreis.“

- Ehemaliger Lehrer oder Professor: „Sie war eine von den Schülerinnen, die man nicht versteht. Ich fand nie einen Zugang zu ihr. Hatte sie mal eine Schularbeit verhauen, war sofort eine totale Abwehrhaltung da. Man konnte ihr nie schlechtes Feedback geben, immer nahm sie es sich zu Herzen und war total nachtragend. Auch mit ihren Mitschülern pflegte sie keine guten Freundschaften. Meistens war sie in den Pausen alleine. Es schien sie nie zu stören. Sie scheint schon immer eine Einzelgängerin gewesen zu sein. Sie mochte ihre männlichen Mitschüler überhaupt nicht und machte sich immer lustig über sie.“

- Ehemaliger Mitschüler oder Studienkollege: „Sie war immer die, die alles frei heraus sagte und konnte manchmal ganz schön beleidigend werden. Ich nahm es ihr nicht übel, weil sie eine der wenigen war, die bei den Lehrern nicht schleimte. Freunde hatte sie nicht viele und mit mir ging sie manchmal etwas essen. Sie sagte mir immer, dass sie meine Ruhe so schätze. Ich war ein in mich zurückgezogener Nerd. Ich kann gar nicht glauben, dass sie jetzt als Managerin eines kleinen Teams arbeitet. Sie hat doch keinerlei soziale Fähigkeiten.“

- Ihre Chefin: „Sie ist eine der Mitarbeiterinnen, die hartnäckig an ihrer Karriere arbeitet. Immer kommt sie pünktlich ins Büro. Sie geht auch pünktlich. Aber sie macht in der Arbeitszeit alles gut. Mehrere Male schon wurde sie für ihre Leistungen gelobt und einmal befördert. Über ihr Privatleben weiß ich nicht viel, ich denke, dass sie Single ist. Einmal erlebten wir jedoch eine Überraschung, als sie zu einer Firmenfeier einen Mann mitnahm. Sie sagte uns später, dass es ihr Ex-Mann gewesen sei, mit dem sie immer noch gut befreundet sei. Wenn ich daran denke, wie komisch, ich kann mich nicht daran erinnern, in ihrer Personalakte je eine Heirats- oder Scheidungsurkunde gesehen zu haben.“

Wie du siehst, lässt sich durch diese kurze Übung ein interessanter Charakter entwickeln. Die fiktiven Stellungnahmen können natürlich noch viel weiter gesponnen werden. Gerade ungewöhnliche, überraschende, widersprüchliche und konfliktreiche Elemente geben dem Charakter Tiefe.



Warum soll ich die Charaktere anfangs noch nicht benennen?

Die Charaktere können zu Beginn „Titel“ wie zum Beispiel „die zurückgezogene Einzelkämpferin“, „der Workaholic-Macho“, „der überarbeitete Familienvater“, „die selbstverliebte Tussi-Freundin“ oder ähnliche tragen. Über die Spitznamen kann man sie wie im richtigen Leben in eine Schublade stecken und daraus noch viele weitere Details entwickeln.

Mit den Namen ist es etwas schwieriger und die Namensgebung kann erst kurz vor dem eigentlichen Schreiben erfolgen.



Wie sieht die Organisation der Charaktere aus?

Im Laufe einer Geschichte stehen die Charaktere immer wieder in Kontakt und Kommunikation miteinander. Ich empfehle, Charakter-Karten für jede im Roman auftretende Person anzulegen:

- Hauptpersonen: rotes Papier

- Wichtige Nebenpersonen: blaues Papier

- Unwichtige Nebenpersonen, die mehrmals auftreten: grünes Papier

- Sonstige Personen, die nur einmal erwähnt werden: gelbes Papier

Diese Charakter-Karten können einen großen Flipchart geklebt werden. Dann kann man zwischen ihnen Verbindungen herstellen, in Form von Szenen, Orten, Konflikten sowie gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft. In Romanen soll das gut durchdacht sein, damit dem Leser die Handlungsstränge und Chronologie auch klar ist.



Auftreten und Verbindung der Charaktere

Erscheint im Roman ein neuer Charakter, sollte man überlegen, wie sein Auftritt genau passiert. Denn schließlich soll ein neuer Charakter spannend sein. Außerdem müssen die Verbindungen mit anderen Charakter plausibel erklärt werden. Meine Thriller-Heldin wird sich nicht Hals über Kopf in ihren Stalker verlieben. Er muss erst einmal etwas tun, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Dazu könnte ich in ihre Vergangenheit eintauchen, um zu sehen, was bei ihr Vertrauen auslöst: ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Kommunikationsweise oder ein Symbol? Wann trifft sie auf ihn und warum bleibt sie bei ihm, wenn sie anscheinend einen großen Bogen um Männer macht?

Jedes Ereignis muss eine plausible und greifbare Erklärung haben. Ebenso muss erklärbar und plausibel sein, warum zwei Personen im Roman auf eine bestimmte Weise miteinander umgehen. Die Mutter meiner Heldin tritt zum ersten Mal auf, als sie diese bei ihr zu Hause besucht. Als sie eintritt, kritisiert sie ihre Tochter wegen ihrer unaufgeräumten Wohnung. Die Heldin denkt sofort an ihre Kindheit und setzt sich trotzig auf den Boden. Sie macht das, was sie immer tut, alles frei heraus sagen: „Das ist meine Wohnung und du hast hier nichts zu suchen, wenn es dir nicht gefällt, wie ich lebe. Du hast mich als Kind schon kritisiert, aber es reicht mittlerweile. Hör auf damit oder geh!“ – Ganz schön fies, diese Heldin! Die Mutter könnte sich das nicht gefallen lassen und etwas ebenso Giftiges zurück sagen. Der Konflikt der beiden könnte sich über den ganzen Roman tragen, sofern die Mutter wichtig ist.



Versuch diese Übungen mit deinen Charakteren

Erfinde die Charaktere, gib ihnen durch die Perspektiven-Übung Leben und stell sie dir vor. Schließlich soll die Fiktion so greifbar werden, dass die Leser sich richtig hineinziehen lassen. Erstelle die Handlung mit den Charakter-Karten auf einem Flipchart und mach dir noch Restnotizen.

Sobald du das alles vor dir hast, dann mach dich ans Schreiben. Zusätzliche Ideen oder Handlungsstränge notierst du dir am besten in einem separaten Notizheft oder einer separaten Datei. Sie würden das bereits angelegte Romangerüst auseinander bringen.

Komme am Ende, nachdem du den Roman geschrieben hast, wieder darauf zurück. Meistens handelt es sich dabei um Ideen, von denen wir uns kurzfristig emotional mitreißen ließen, die dem Roman aber keinen Mehrwert mehr geben.

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